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Kultur - 30.10.2018

Die Frau, die den Jazz in die Zukunft führt

Nadin Deventer ist nach 54 Jahren die erste Frau an der Spitze des Berliner Jazzfestes. Sie zog die Musik dem Leistungssport und der Politik vor. Jetzt will sie das Festival wieder zum Erlebnis machen. 0

Wo soll das Gespräch stattfinden? Unschlüssig stehen der Interviewer und die Pressesprecherin in Erwin Piscators klaustrophobisch enger Loge im Haus der Berliner Festspiele herum. Das geschichtsträchtige Zimmer der Theaterlegende wäre sicherlich ein angemessener Ort für einen Gedankenaustausch mit Nadin Deventer, der ersten künstlerischen Leiterin in der 54-jährigen Geschichte des Berliner Jazzfestes. Doch die schaut nur kurz in den Raum und sagt: „Wir gehen natürlich raus!“

Ob es ihr denn ungeachtet des goldenen Oktoberwetters nicht ein bisschen zu kalt draußen sei, gibt man zu bedenken. „Ach was“, winkt Deventer, modisch zerrissene Jeans, Strickpulli, ab. Sie sei gerade mit dem Fahrrad durch die ganze Stadt von Prenzlauer Berg nach Wilmersdorf geradelt wie jeden Morgen, ihr sei warm. Also geht es unter die Kastanien hinter der ehemaligen Freien Volksbühne, auf dem Tisch liegt Herbstlaub, das schnell beiseitegewischt wird.

Acht Leiter hatte das 1964 von Joachim-Ernst Berendt gegründete Berliner Jazzfest bislang, alle waren männlich und seit 2003 immer weit jenseits der 40. Sich raus aus alten Konventionen bewegen, frischen Wind hineinbringen und dabei die Sache unaufgeregt pragmatisch angehen – das ist jetzt nicht nur die Aufgabe der 1977 in Ibbenbüren geborenen Festivalleiterin, sondern entspricht offenbar auch ganz ihrem Naturell.

Das zeigte sich schon im Teenageralter, als Deventer mit 16 Jahren, nachdem sie eine Französin kennengelernt hatte, auf eigene Faust einen siebenmonatigen Schulaufenthalt in Paris organisierte. Sie überzeugte ihre Eltern und die Schulleitung, korrespondierte mit dem nordrhein-westfälischen Kultusministerium wegen der Genehmigung und reiste schließlich mit zwei Koffern und ihrem Fahrrad an die Seine.

„Ich war dann tatsächlich die Einzige in Paris, die mit dem Fahrrad zur Schule gefahren ist“, sagt Deventer. Ist das der berühmte westfälische Starrsinn? „Nö“, findet die Münsterländerin, „ich bin nicht stur. Mir war nur eigentlich schon immer egal, was die anderen denken.“

Diese Eigenschaft zahlt sich jetzt aus. Natürlich gab es Stimmen, die die Eignung Deventers für die Leitung der Berliner Festivalinstitution infrage stellten. Zu jung, zu unerfahren, lautete das Gegrummel aus ergrauten Bärten. Was Unsinn ist, wenn man sich den Werdegang der 41-Jährigen anschaut: Parallel studierte sie Jazzgesang und Europawissenschaften mit den Schwerpunkten internationale Beziehungen, europäische Kulturpolitik und Europarecht in den Niederlanden.

„Mein Geld habe ich abends hinter der Bar verdient“

Immer wieder mal lebte sie in Paris und in Berlin. Trotz eventueller Perspektive in der Politik nach einem guten Jahr im Bundestag im Bereich Kultur und Medien ging sie dann lieber nach Dortmund, um dort als Praktikantin beim Neuaufbau des Jazzklubs Domicil auszuhelfen. Sie packte mit an und bekam erste wichtige Einblicke in die Organisation, das Entwickeln von Programmen sowie die Erschließung von Finanzquellen. Reich wird man damit natürlich nicht. „Mein Geld habe ich abends hinter der Bar verdient“, erzählt Deventer.

Sie wurde nach Brüssel abgeworben, zum klassischen Festival van Vlaanderen, man holte sie zurück in den Pott, wo sie das Musikernetzwerk jazzwerkruhr zehn Jahre lang leitete, für die Kulturhauptstadt Ruhr.2010 das Programm „No blah-blah“ mit 60 Konzerten in 25 Städten entwickelte und als künstlerische Leiterin des interdisziplinären Festivals „n.a.t.u.r. – natürliche ästhetik trifft urbanen raum“ 171 Veranstaltungen in zwölf Tagen stemmte.

2012 wurde sie in den Vorstand des Veranstalterzusammenschlusses Europe Jazz Network gewählt, in Polen verlieh man ihr einen Preis für ein binationales Projekt.

„Ich war schon immer fasziniert von Talenten und Ausnahmeerscheinungen, egal in welchem Bereich“, erzählt Deventer, die bis zu ihrem 19. Lebensjahr Leistungssportlerin war – Mittelstreckenläuferin durchaus mit Aussicht auf eine Olympiateilnahme in Sydney 2000. Während des Jazzstudiums reifte dann bei ihr die Erkenntnis: „Den Talenten muss man helfen. Ihnen Türen öffnen. Das sollte ich tun.“

Als Festivalmacherin repräsentiert die Mutter eines zehnjährigen Sohnes nun eine neue Generation, die nicht mehr über die Gewissheiten und Sicherheiten ihrer Vorgänger verfügt. „Wir haben nicht mehr so stringent lineare Lebensläufe“, sagt Deventer.

Was auch daran liegt, dass es jenseits von Institutionen wie dem unter anderem aus Bundesmitteln finanzierten Berliner Jazzfest kaum noch langfristige Förderungen für Konzertreihen, Klubs oder Festivals gibt. Sondern hauptsächlich projektbezogen unterstützt wird, für ein paar Monate, vielleicht für ein Jahr. Danach müssen wieder neue Anträge gestellt werden. Deventer kennt das Spiel aus ihrer Zeit im Ruhrgebiet nur zu gut.

Jazz hat ein Männerproblem

„Heutzutage leben wir auch im Kulturbereich im Neoliberalismus und müssen damit klarkommen, ganz egal, wie ich das finde“, sagt die Kuratorin, die nach drei Jahren Anstellung als Produktionsleiterin bei den Berliner Festspielen das Jazzfest nun bis 2020 als Freelancerin verantworten wird.

Ihre Ernennung zur ersten künstlerischen Leiterin des Traditionsfestivals trifft aber auch aus einem anderen Grund den Nerv der Zeit. Denn auch im lange männerdominierten Jazz spielen Themen wie Gender Balance jetzt endlich eine Rolle. Gerade veröffentlichte die Union Deutscher Jazzmusiker (UDJ) eine Erklärung zur Gleichstellung von Frauen im Jazz, die eine aufschlussreiche Statistik enthält: Der Anteil von Frauen im deutschen Jazzmusikbereich liegt gerade mal bei einem Fünftel – wobei die überwältigende Mehrheit, 86 Prozent, singt und nur 12Prozent Instrumentalistinnen sind.

„Die Gründe dafür sind komplex, letztendlich ist es eine gesellschaftliche Aufgabe. Sicher fehlen auch die role models“, stellt Nadin Deventer fest, „es gibt zu wenige Saxofonistinnen, Bassistinnen oder Gitarristinnen, die Teenagerinnen imitieren könnten.“

Über einen Mangel an weiblichen Vorbildern kann man sich bei ihrem ersten Berliner Jazzfest jedenfalls nicht beklagen. Da zeigt die US-Amerikanerin Mary Halvorson als Artist in Residence ihre unorthodoxe Gitarrenkunst, vermittelt die in New York lebende Trompeterin Jaimie Branch von Genre- und Gendergrenzen unbeeindruckt zwischen Free Jazz, Noise und Hip-Hop, lässt die britische Saxofonistin Nubya Garcia die Souljazzmuskeln spielen.

Die feministische Avantgardepoetin und Electro-Fricklerin Moor Mother trifft in einer der Festival-Weltpremieren auf den 78-jährigen Saxofonisten Roscoe Mitchell des legendären Art Ensemble of Chicago, das reaktiviert und verjüngt ebenfalls nach Berlin kommt.

Eröffnet wird das Jazzfest am 1. November vom Black Earth Ensemble der Afrofuturistin Nicole Mitchell, die das Publikum im Festspielhaus mit ihrem Werk „Mandorla Awakening“ ins Jahr 2099 entführt. Eine Soloperformance des Stargitarristen Bill Frisell beendet das Festival am 4. November. Das Berliner Jazzfest – es wird politisch, es wird fordernd.

Ein Festival zum Eintauchen

Mit Überschriften wie „Friday Blast“, „Hyperactive Saturday“ oder „Melancholic Sunday“ hat Deventer die einzelnen Abende ihres Berliner Festivaldebüts versehen. „Zurück in die Zukunft“ (oder zumindest in die Gegenwart) hätte als Gesamtmotto aber auch gut gepasst zu diesem prall gefüllten Nachdenk- und Erlebnispaket, das neben 35 musikalischen Acts Kiezspaziergänge, eine DJ-Nacht bis sieben Uhr früh und eine Vielzahl experimenteller Aktionen, darunter ein Drei-Gänge-Menü, bei dem die Essgeräusche der Gäste mitgeschnitten werden.

Beim samstäglichen Familienkonzert ruft das Trio Tin Men and the Telephone schließlich dazu auf, per Mitmach-App eine gemeinsame Welthymne zu komponieren, um den Planeten zu retten. „Ich versuche, einen Festivalkosmos zu kreieren, in den man eintauchen kann“, erklärt die neue künstlerische Leiterin. Nicht nur der Andrang auf die Tickets, sondern auch die Zahl der Akkreditierungen zeigt: Man ist national und international so gespannt wie schon lange nicht mehr auf das Programm in Berlin.

Plötzlich raschelt es im Gebüsch. „Da, ein Eichhörnchen!“, entfährt es dem Interviewer mit sich überschlagender Stimme. „Ja. Hier gibt es auch viele Hasen“, bemerkt Nadin Deventer freundlich unbeeindruckt.

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