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Kultur - 11.11.2018

Großbritannien heilt sein Kriegstrauma mit einer Blume

Der Erste Weltkrieg löste in Großbritannien ein kollektives Trauma aus. Der „Poppy Day“ hilft den Briten, damit fertig zu werden. Aber kann der Gedenktag im Brexit-Land noch Einheit stiften? 0

Sage niemand, dass die Briten nur Kronen und Könige zu inszenieren wüssten. Dies ist eine Nation von geschliffener Theatralik, die auch ernsten Anlässen eine sehenswerte Note abgewinnt und damit Traditionen öffentlicher Gefühlskultur gestiftet hat. Zum Beispiel den 11. November, der seit 1919 an die Toten des Ersten Weltkriegs erinnert und inzwischen den Gefallenen aller modernen Kriege gewidmet ist.

Als „Armistice Day“, Waffenstillstandstag, aus der Taufe gehoben, wanderte sein Titel über „Remembrance Day“ bald zum heute populären „Poppy Day“, dem der rote Mohn (poppy) aus Flandern den Namen gibt. Es war John McCrae, ein kanadischer Arzt und Artillerieoffizier, der schon 1915 den Ton angab mit seinem lakonischen Gedicht „In Flanders Fields“: „Wir sind die Toten, vor kurzen Tagen noch am Leben, / fühlten die Morgendämmerung und sahen die glühende Sonne sinken. / Wir liebten und wurden geliebt, nun liegen wir / auf den Schlachtfeldern Flanderns.“

„Flanders Fields“ ist seitdem der ikonische Zentralbegriff. Schon seit 1921 gehört der rote Mohn zum 11. November und seinen zehn vorausgehenden Tagen; das Land verneigt sich vor den Opfern, die im Dienste an einer höheren Berufung starben.

Kein falscher Heroismus

Das klingt pathetisch in einer Zeit, die dem Krieg keine inhärente Qualität mehr abgewinnen kann. Aber in dem Gedenken des 11. November, wie es Großbritannien und viele Länder des Commonwealth begehen, klingt eine überragende Botschaft an – nicht das horazsche „Dulce et decorum est, pro patria mori“.

Das hatte schon Wilfred Owen, der Lyriker und Weltkriegsteilnehmer, der eine Woche vor dem Waffenstillstand, 25-jährig, das Leben verlor, in einem seiner aufwühlenden Gedichte als falschen Heroismus entlarvt. Wenn du das Elend der Kämpfer in seiner blutigen Realität auf dich hast wirken lassen, mein Freund, so dichtete er, „dann wirst du nicht mit solcher Begeisterung den Kindern, die wie verzweifelt nach Glorie dürsten, die alte Lüge auftischen: Es ist süß und ehrenvoll, für das Vaterland zu sterben.“

Daher macht auch der „Remembrance Day“ einen großen Bogen um den falschen Zungenschlag von Heldenverehrung. Vielmehr rückt bei dem Gedenken an die Opfer des eigenen Landes die Verteidigung der Freiheit in den Vordergrund, woran sich der Gedanke anschließt: „damit wir in dieser Freiheit leben können, für die die anderen ihr Leben gaben“.

Offensichtlich kann eine solche Betrachtung nur gedeihen in einem Land, wo die Beziehung zwischen der Gesellschaft und dem Militär noch mehr oder wenig ungestört ist. So dient der „Poppy Day“ Jahr für Jahr dem Erlebnis der Eintracht, stiftet ein einigendes Gesamtgefühl, das auf der Insel ansonsten so spürbar abwesend ist bei einem anderen Thema – dem Brexit.

Der Mohn aus Flandern ist wie ein Kostüm, aber auf freiwilliger Basis: Schon Tage vor dem 11. November kann sich niemand der Blume, am linken Revers zu tragen, nahe dem Herzen, entschlagen, der sich als öffentliche Figur begreift; das schließt neben den Spitzen des politischen Establishments auch Sportvereine ein, natürlich auch die Medien, zumal das Fernsehen.

Selbst Schulklassen machen mit, als werde im Nebenfach Patriotismus unterrichtet. Die kleine Tochter der deutschen WELT-Korrespondentin Stefanie Bolzen in London, Mathilda, bestand darauf, dass die Mutter auch ihr eine Poppy ans Revers ihres Cardigans anbrachte, weil „alle anderen Kinder in der Klasse auch eines haben“.

In diesem Jahr fallen die beiden relevanten Daten „Armistice Day“ (der 11. November) und „Remembrance Sunday“ (der zweite Sonntag im November) zusammen, und das genau einhundert Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges. Das gibt dem Gedenken diesmal eine besondere Note der Feierlichkeit.

In der Regel steht das Leben auf den britischen Straßen in der elften Stunde des elften Monats für zwei Minuten still, erstarrt und herausgerissen aus seiner wie besessenen Umtriebigkeit. Der Sonntag des Gedenkens danach dient dann den Kranzniederlegungen am nationalen Kriegerdenkmal in Whitehall, dem Cenotaph.

Dort werden diesmal die Schweigeminuten das nationale Gemüt ergreifen, ehe der „Last Post“ erklingt, die bewegende Waldhorn-Fanfare eines Angehörigen der Royal Marines. Das Signal diente im Krieg als Memento an die Kämpfenden, sich jeweils zum Ende des Tages in ihre Stellungen zurückzubegeben zur Nacht. Heute signalisiert es pointiert die ewige Ruhe der Kriegstoten und das memento mori allen Lebens.

Versöhnung der Hauptkontrahenten

Die Königin und andere Mitglieder ihrer Familie legen dann als Erste ihr Kränze nieder, protokollgerecht gefolgt von Vertreter aller Gattungen der Streitkräfte Großbritanniens und des Commonwealth sowie von den in London ansässigen „Sekretären“ der einzelnen Mitgliedsländer. Beschlossen wird alles vom „March Past“, dem Vorbeimarsch von 10.000 Veteranen, die im Losverfahren ausgewählt wurden.

Erstmalig in diesem Jahr ist das deutsche Staatsoberhaupt eingeladen, an der Feier teilzunehmen. Mit Bundespräsident Steinmeier erhält der Anlass damit eine den Tag überdauernde Bedeutung, das Attest der Versöhnung der zwei Hauptkontrahenten des Ersten Weltkrieges, England und Deutschland.

Erneut bildet der Tower of London einen besonderen Augenfang. Ein Lichtermeer von 10.000 Kerzen erleuchtet am Abend das historische Bauwerk wie eine Klagemauer des Erinnerns. Auch ein symphonisch-dichterisches Werk, genannt „Beyond the Shadows“ (Jenseits der Schatten), wurde einstudiert, in seiner Mitte ein Chorwerk um die Worte der amerikanischen Philanthropin und Dichterin Mary Borden, aus ihrem Zyklus „Sonette an einen Soldaten“.

Schon 2014, zur Jahrhundert-Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkriegs, war der Tower der Schauplatz einer Kunst-Inszenierung, als Hunderttausende Poppies aus Porzellan von den Tower-Mauern gleichsam zur Erde flossen und sich in die Fläche verbreiteten.

Der Erste Weltkrieg hinterließ in England tiefe Narben. Von der Realität moderner Landkriege hatte die Insel vor 1914 keinen Begriff. Der Blutzoll, diese Hekatomben von Soldaten, reines Kanonenfutter an der Somme, Ypern und andernorts, löste einen posttraumatischen nationalen Stress aus, an den der „Poppy Day“, der 11. November, fortwährend erinnert. Es ist der Tag, mit dem in Deutschland die Karnevalssaison eröffnet wird.

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