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Sport - 07.07.2019

Tour-Start in Belgien: Radsport als Lebensart

Zum Start der Tour de France 2019 zelebriert Belgien ein riesiges Radsport-Fest. Die Liebe zum Rad ist tief in der belgischen Kultur verankert – da kann auch ein niederländischer Tagessieg die Partystimmung nicht kippen.

Warten auf die Tour – Hunderttausende Belgier bereiten der Frankreich-Rundfahrt einen großen Empfang

Fast könnte man meinen, er sei noch dabei. In einer Kurve der Brüsseler Innenstadt skandieren die Fans „Eddy, Eddy, Eddy!“ – lautstark und gut gelaunt. Für Eddy Merckx, den belgischen Fünffachsieger der Tour de France, den siegeshungrigen „Kannibalen“, wie er einst genannt wurde, für den großen Repräsentanten seines Sports. Er fährt zwar seit 41 Jahren keine Rennen mehr, ist inzwischen 74, aber das spielt hier in der Rue Antoine Dansaert keine Rolle. „Eddy ist immer noch ein großer Held für uns. Er war es, und er wird es immer bleiben“, sagt Jan-Frans Lemmens. Er steht mit seinem Fahrrad am Streckenrand und wartet auf das Peloton der Tour de France, das hier zur ersten Etappe aufbricht.

Vor 50 Jahren gewann er seine erste Tour de France, jetzt ehrt ihn die Tour in Brüssel: Radlegende Eddy Merckx

Der 45-jährige Brüsseler hat heute nur eines im Sinn: die Tour. An drei verschiedenen Stellen will er das Rennen sehen, alle Eindrücke des „Grand Départ“ in Brüssel, dieses belgischen Radsport-Feiertags, aufsaugen: „Es ist ein magisches Gefühl, dass die Tour jetzt hier zu uns kommt. An der Strecke zu stehen, ist für mich selbstverständlich. Radsport ist Teil meines Lebens.“

So ist das hier in Belgien. Das Rad ist Teil der Kultur. 14.500 Kilometer Radwege verteilen sich auf das Land, das nur 280 Kilometer in der Länge misst. Am Wochenende sieht man auf manchen Landstraßen mehr Radfahrer als Autos. Und selbst das Zusehen, wie andere Rad fahren, ist hier Kultur. Bei den Frühjahrsklassikern auf den ruppigen Kopfsteinpflastersträßchen Flanderns stehen und feiern sie, bei den Crossrennen, die durch Schlamm, Sand und manchmal sogar mitten durch Kneipen führen, und auch bei den lokalen Amateurrennen – man schaut eben Radrennen, gerne auch mal mit einem „Blonde“, einem kräftigen belgischen Bier, in der Hand.

Bei Jan-Frans Lemmens ist es allerdings eine Wasserflasche. Er hat ja noch einiges vor heute. Schon als sechsjähriger Junge sei er mit seinem Vater zur Tour de France gereist, erzählt er. „Ich war sofort infiziert.“ Und das sieht man. Als das Fahrerfeld endlich vorbeirollt, jubeln Lemmens und seine Freunde euphorisch. Und nach ein paar Sekunden ist das Spektakel auch schon wieder vorbei. 500.000 Menschen stehen nach Schätzungen allein im Stadtgebiet von Brüssel Spalier für die Tour.

„Heimsieg“ an der Mauer von Geraardsbergen

Auch draußen auf dem Land, auf den Straßen Flanderns, dem eigentlichen Herz der belgischen Radsporttradition, stehen Hunderttausende entlang der Strecke und feiern die Tour, die 20 belgischen Fahrer – womit Belgien hinter Frankreich (34 Starter) die zahlenmäßig zweitstärkste Nation der Tour ist – und sich selbst. Zum Beispiel an der legendären Mauer von Geraardsbergen, einem kurzen, giftigen Kopfsteinpflasteranstieg hinauf zu einer kleinen Kapelle, wo nach Medienberichten 10.000 Menschen ein Open-Air-Festival für die Fahrer der Tour abhalten – umso mehr, als sich unter frenetischem Jubel seiner Landsleute mit Greg van Avermaet ein Belgier die ersten Bergpunkte und somit das gepunktete Trikot des Bergbesten sichert.

Großes Spektakel, kurze Dauer – binnen Sekunden rauscht die Spitzengruppe an den Fans vorbei

Woher kommt diese innige belgische Liebe zum Vélo? Radprofi Yves Lampaert steht vor der Etappe bei einem Sponsorentermin in einem Supermarkt und muss nicht lange überlegen. Für ihn war sie irgendwie schon immer da. „Wir haben eine große Geschichte des Radsports. In jeder Generation hatten wir große Fahrer. Dadurch werden Kinder motiviert, mit dem Radsport zu beginnen. Es gibt viele Vereine, die sie fördern und selbst an den Schulen gibt es Unterricht“, sagt der belgische Meister von 2018 im Gespräch mit der DW. Und sein Teammanager Patrick Lefevere, in Belgien eine ebenso prägende wie schillernde Gestalt der Sportwelt, geht noch weiter: „Radsport ist eine Lebensart bei uns Belgiern. Alle wollen dabei sein, alle fiebern mit, das ist ein sehr spezielles Gefühl, Teil davon zu sein.“ Für sein belgisches Deceuninck-Quickstep Team ist der Auftakt in der Heimat etwas ganz Besonderes. Den ganzen Tag arbeitet die Équipe in blau, um Ausreißer einzuholen, den Sprint vorzubereiten, mit dem großen Ziel vor Augen: das Gelbe Trikot beim Tour-Auftakt in der Heimat zu holen.

Ein Niederländer ärgert die Belgier

Der Niederländer Mike Teunissen (r.) schiebt sich auf der Ziellinie an Peter Sagan (Mitte) vorbei und gewinnt

Doch in einem hektischen Finale auf der ansteigenden Zielgerade der Avenue du Parc Royal gehen viele Pläne zu Bruch. Der Deceuninck-Quickstep-Sprintzug fährt mustergültig an, doch dessen italienischer Sprinter Elia Viviani verliert den Anschluss, kann nicht in die Entscheidung eingreifen.Topfavorit Dylan Groenewegen aus den Niederlanden stürzt, und Rad-Popstar Peter Sagan geht in Führung liegend auf den letzten Metern die Luft aus. Um Reifenbreite triumphiert am Ende der Niederländer Mike Teunissen. Auf der Ziellinie schiebt er sich an Sagan vorbei und beendet eine lange niederländische Durststrecke: Zuletzt trug 1989, also vor dreißig Jahren, ein Niederländer das Gelbe Trikot. Die große belgische Party findet also kein Happy End.

Der Stimmung im Ziel tut das keinen Abbruch. In großen Trauben umringen die Zuschauer insbesondere die Busse der belgischen Teams, versuchen, Autogramme oder ein Foto zu erhaschen, während sich die Profis auf ihren Rollen ausfahren. Der Schweiß tropft Kevin van Melsen noch von der Stirn, während unter ihm die Beine langsam kreisen. Der Belgier fährt seine erste Tour de France und steht ein paar Minuten nach der Zieldurchfahrt noch unter dem Eindruck dessen, was er gerade auf den 194,5 Kilometern durch sein Heimatland erlebt hat. „Es waren wahnsinnig viele Menschen auf den Straßen, das war unglaublich“, sagt der 32-Jährige der DW und strahlt. „Ich konnte in manchen Ortschaften kaum etwas verstehen, es war sehr laut. Die Begeisterung zu sehen, hat mich wirklich glücklich gemacht.“


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    8 Romain Bardet (Ag2r La Mondiale)

    Die Hoffnungen wiegen schwer auf den schmalen Schultern des Romain Bardet. Der schlaksige Kletterer soll die lange Durststrecke der Franzosen bei der Tour beenden. In den letzten Jahren sah es so aus, als käme er diesem Ziel näher. Doch aktuell fährt Bardet, der einen Uni-Abschluss in Management besitzt, seiner Form und den Gegnern hinterher. Prognose: Verliert im Zeitfahren zu viel Zeit.


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    „Wir haben unterschiedliche Wege genommen, sind uns aber sehr nah und sprechen täglich miteinander“, sagt Adam Yates über seine Beziehung zu seinem Zwillingsbruder Simon. Beide sind talentierte Anwärter auf das Gesamtklassement. In Frankreich wird Simon, der beim Giro Kapitän war, wohl für Adam fahren. Der ist in den Bergen gut, im Zeitfahren solide. Prognose: Kann mitspielen, aber nicht gewinnen.


  • Wer gewinnt die Tour de France?

    6 Emanuel Buchmann (Bora-Hansgrohe)

    Vom talentierten Mitfahrer zum Podiumskandidaten – Emanuel Buchmann hat bei den Vorbereitungsrennen einen starken Eindruck hinterlassen. Am Berg zählt der stille Schwabe inzwischen zu den Besten, im Zeitfahren hat er sich gesteigert. Was dem 26-jährigen noch fehlt, ist der Punch und das Selbstvertrauen für einen großen Sieg. Prognose: Seine Kurve geht weiter nach oben.


  • Wer gewinnt die Tour de France?

    5 Vincenzo Nibali (Bahrain-Merida)

    Das Double aus Giro und Tour hat sich in den letzten Jahren stets als zu anspruchsvoll erwiesen. Auch dem erfahrenen „Hai aus Messina“ wird man die Strapazen der Italienrundfahrt, die er auch wegen eines taktischen Fehlers verlor, noch anmerken. Doch mit seiner Konstanz und Leidensfähigkeit wird der 34-Jährige punkten. Prognose: Dem Hai fehlen ein paar Zähne für einen kraftvollen Biss.


  • Wer gewinnt die Tour de France?

    4 Thibaut Pinot (Groupama-FDJ)

    Die Angst vor den Abfahrten ist besiegt, an seiner Zeitfahrschwäche hat er gearbeitet – ist Thibaut Pinot nun endlich bereit für mehr als eine gute Platzierung? Fast. Der Franzose wählte einen kontinuierlichen Aufbau und fokussiert sich erstmals wieder auf die Tour. Sein Team ist gut, aber andere sind besser. Prognose: Pinot wird angreifen, seine Gegner aber nicht alle abschütteln können.


  • Wer gewinnt die Tour de France?

    3 Geraint Thomas (Ineos)

    Der Titelverteidiger hatte bei der Tour de Suisse eine Schrecksekunde: Nach einem schweren Sturz schien bereits der Traum vom zweiten Toursieg ausgeträumt. Doch der 33-jährige Waliser kann starten. Seine Vorbereitung lief nicht ideal – ihm wird die Leichtigkeit des Vorjahres fehlen. Prognose: Aber zum Podium reicht es dennoch.


  • Wer gewinnt die Tour de France?

    2 Jakob Fuglsang (Astana)

    Jahrelang stand der Däne in Diensten anderer Top-Fahrer: Jakob Fuglsang fuhr schon für die Schleckbrüder als Helfer und stand auch bei Astana meist im Schatten. Nun ist er Kapitän und das zu Recht. In diesem Jahr war er der konstanteste der Tour-Kandidaten, hat sich am Berg noch einmal gesteigert. Prognose: Kommt dem Gelben Trikot sehr nah.


  • Wer gewinnt die Tour de France?

    1 Egan Bernal (Ineos)

    Viva Colombia! Die radsportverrückte Nation freut sich auf den nächsten Star, der im Juli die Heimat verzückt. Und dieses Mal möglicherweise so richtig. Egan Bernal hat außergewöhnliche Leistungsdaten und fährt bei Ineos im stärksten Team. Bei der Tour de Suisse war er nicht zu schlagen, jetzt könnte er der Tour seinen Stempel aufdrücken. Prognose: Er lässt Kolumbien jubeln.

    Autorin/Autor: Joscha Weber


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